Traum-Haft Teil 2 - Leseprobe
- Schreibtischtäter
- 16. März
- 14 Min. Lesezeit

Der Erdkunde-Test
Ein Junge wurde von der Erdkunde-Lehrerin nach vorne gerufen, um an der Weltkarte geprüft zu werden. Er bekam Herzrasen und einen Schweißausbruch, denn er hatte erstmals vergessen, sich auf einen Test vorzubereiten. So groß ist die Welt, dachte er beim Blick auf die Karte, und nirgends ein Ort zum Verstecken. Im Vorgefühl der Demütigung ging er aus der letzten Bankreihe nach vorne. Er wollte die Strafe für sein Versagen so schnell wie möglich entgegennehmen und sich für den Rest der Unterrichtsstunde in seiner Schulmappe verstecken.
Als er mit dem Zeigestock neben der Weltkarte stand, wurde er von der Lehrerin aufgefordert, die Insel Yakushima zu zeigen. Die kenne ich, dachte er jubelnd und schöpfte Hoffnung. Nachdem er mit dem Zeigestock auf die Insel gewiesen hatte, wurde er aufgefordert, die Insel Yakushima zu zeigen. Er war etwas irritiert und wies ein zweites Mal auf die Insel. Danach wurde er zum dritten Mal aufgefordert, die Insel Yakushima zu zeigen. Jetzt erstarrte er vor Ratlosigkeit. Hatte er sich etwa nur eingebildet, dass er auf die Insel Yakushima zeigen sollte, weil sie schwer zu finden, ihm jedoch bekannt wäre? Oder hatte er gehofft, wenn er die Insel Yakushima zeigte, würde die Lehrerin denken, sie hätte danach gefragt?
Die Fragen blieben unbeantwortet, allerdings musste eine Strafe über den Jungen verhängt worden sein, denn er befand sich plötzlich in einem unbekannten Zimmer. Auf der Anrichte piepte ein Wasserkocher. Daneben standen eine leere Teeschale und ein Gaiwan mit losem Grünen Tee. Der geöffneten Verpackung nach zu schließen, handelte es sich um Shimadori, einen Kabusecha, den der Junge wegen des süßlich-seifigen Nachgeschmacks sehr mochte. Er goss das 60 Grad heiße Wasser in den Gaiwan und füllte es nach einer Minute in die Schale um. Dann trank er den Tee in kleinen Schlucken und genoss den süßlich-seifigen Nachgeschmack. Wenn das die Strafe sein sollte, so wollte er sie gerne und lange erdulden.
Plötzlich stieg ihm ein starker Fäulnisgeruch in die Nase. Er sah sich in dem Zimmer um und erblickte einen großen, prall gefüllten Müllbeutel. Der Junge wollte ihn hinausbefördern. Da noch etwas Platz darin war, kippte er den soeben aufgegossenen Tee hinein. Offenbar wurde der Müllbeutel dadurch zu schwer. Er riss beim Anheben unten auf, sodass der gesamte Inhalt, vor allem verrottetes Obst und Gemüse, auf dem Boden verteilt wurde. Der Junge war gleichermaßen erschrocken wie angeekelt. Noch größer aber war sein Schreck, als er feststellte, dass es keine Geräte und keinen Platz zur Entsorgung des Mülls gab, weder Schaufel noch Besen, weder Schrubber noch Lappen, weder Beutel noch Eimer. Auch die Tür war verschlossen und Fenster gab es nicht. Der Junge bekam einen Schweißausbruch. Er trat so weit wie möglich von dem Müllhaufen zurück und ließ sich verzweifelt auf dem Boden vor der Wand nieder. Er begann zu weinen und wünschte, er wäre noch im Erdkunde-Unterricht, wo er lediglich eine schlechte Note bekommen könnte.
Als er den Kopf hob und seine Tränen mit dem Ärmel wegwischte, erschien ihm der Müllhaufen wie ein frisch ausgehobenes Grab. Der Anblick beruhigte ihn.
Die Übernachtung
Ein Mann durfte im Wohnzimmer seines Vorgesetzten übernachten. Dieser war mit seiner Frau bereits im Bett, der zwölfjährige Sohn ebenso. Der Mann glaubte, dass er vor dem Schlafengehen eine unaufschiebbare Arbeit für seinen Vorgesetzten erledigen sollte, um sie am nächsten Tag beim Frühstück zu präsentieren. Er wusste aber nicht, welche Arbeit das war. Entweder hatte er es vergessen oder sein Vorgesetzter hatte vergessen, es ihm zu sagen. Der Mann wusste nicht, was er tun sollte. Einerseits war die ihm gestellte Aufgabe gewiss von existenzieller Dringlichkeit. Sie nicht zu erfüllen, wäre daher unentschuldbar und ein außerordentlicher Kündigungsgrund gewesen. Andererseits stand es ihm nicht zu, in die Privatsphäre seines Vorgesetzten einzudringen. Sie nicht zu achten, wäre unentschuldbar und ein außerordentlicher Kündigungsgrund gewesen.
Der Mann hoffte, sein Vorgesetzter würde noch zu einer Einweisung ins Wohnzimmer kommen oder ihm zumindest eine Nachricht schicken, aber die Stunden vergingen, ohne dass dergleichen geschah. Er blieb wach und angekleidet, um jederzeit auf alles reagieren zu können. Sei es als Ersatzhandlung, sei es in der Hoffnung, ihm fiele die Aufgabe doch noch ein, verbrachte er die Nacht mit leerer, pantomimischer Geschäftigkeit. Zweimal suchte sein Vorgesetzter die Toilette auf, aber der Mann überlegte jedes Mal zu lange, ob er ihn ansprechen sollte.
Kurz nach Sonnenaufgang standen sein Vorgesetzter, dessen Frau und dessen Sohn auf. Sie bewegten sich völlig ungeniert in der Wohnung – als wären sie alleine. Der Vorgesetzte lief in Feinrippunterwäsche herum, wobei sein stark gedehnter Hodensack aus der verrutschten Unterhose baumelte, und die Frau lief gänzlich unbekleidet herum, wobei sie den Sohn auf der Hüfte trug und ihm ihre schlauchartige Brust zum Saugen hinhielt. Um den peinlichen Anblicken zu entkommen, ging der Mann ungefragt in die Küche und bereitete für die Familie das Frühstück zu. Zuerst legte er eine Handvoll Weintrauben in eine Schüssel und gab einen großen Schluck Wasser dazu. Dann rührte er eine Esslöffelspitze Matcha darin an und fügte zwei Esslöffel Leinsamen hinzu. Dann schüttete er einen kleinen Becher Naturjoghurt hinein, rührte zwei Esslöffel Honig hinein und verfeinerte das Ganze mit vier Prisen Zimt. Schließlich schüttete er so viele Haferflocken hinein, dass die Mischung eine sämige Konsistenz erhielt, nicht zu flüssig und nicht zu fest. Er selbst hatte am Morgen mit Übelkeit zu kämpfen und konnte daher nichts essen.
Die drei Erwachsenen setzten sich an einen Glastisch. Darunter spielte der Sohn mit Puppen. Der Vorgesetzte begann mit großem Appetit zu essen und sagte zu dem Mann: „Da haben Sie uns aber eine wahre Köstlichkeit kredenzt. Schlagen Sie nur ordentlich zu! Wir werden heute keine Zeit mehr zum Essen haben. Ich hoffe, Sie haben sich frühzeitig schlafen gelegt, damit Sie mir heute mit ganzer Kraft zur Seite stehen können. Davon wird nicht nur unser wirtschaftliches Überleben abhängen. Hören Sie gut zu, ich erkläre Ihnen jetzt Ihre Aufgabe!“ – „Jawohl“, sagte der Mann mit einem starken Gähnen. Dabei berührte sein Gaumenzäpfchen den Rachen und er bekam einen Würgekrampf. Um dies zu verbergen, steckte er schnell den Kopf unter den Tisch. Als ihm bewusst wurde, dass er durch die Glasplatte gesehen werden konnte, dachte er: „Hoffentlich kotze ich nicht die Puppen des Jungen voll. Das sind bestimmt Einzelanfertigungen.“
Die Freundschaftskündigung
Ein Mann versuchte, seine schief sitzende Brille zurechtzurücken, aber es gelang ihm nicht. Wahrscheinlich hatte sich ein Bügel oder ein Nasenpadhalter verzogen. Der Mann konnte sich nicht erklären, wie es dazu gekommen war, denn er bewegte sich kaum und war mit nichts und niemandem zusammengestoßen. Da kamen ihm zwei schreckliche Gedanken: Was, wenn sich gar nicht die Brille verzogen hätte, sondern sein Gesicht, was, wenn ein unheilbarer Deformations- und Auflösungsprozess eingesetzt hätte, der sich vom Gesicht über den gesamten Körper ausbreiten würde? Plötzlich klingelte es. Ohne dass der Mann die Tür geöffnet oder jemandem den Zutritt erlaubt hätte, kamen zwei Männer herein. Der Mann wollte die Eindringlinge gerade hinausjagen, da erkannte er einen der beiden. Es war ein ehemaliger Kommilitone, der ihm vor Jahren in einem außerordentlich peinlichen Vorgang die Freundschaft gekündigt hatte.
Der Kommilitone hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen, ihm dort eine Portion Spaghetti mit Tomatensoße zubereitet, das Essen aber so lange einbehalten, bis die Töpfe abgewaschen worden waren, und es dann weggeworfen, weil es inzwischen kalt geworden war und er ohnehin den Teller hatte abwaschen wollen. Dann hatte der Kommilitone ihm befohlen, zu schweigen, und ihm mit einer Art von theatralischem Sprechgesang die Freundschaft gekündigt. Als allgemeinen Grund hatte er Versäumnisse genannt, welche aufzuzählen er als überflüssig betrachte. Sofort im Anschluss, ihm das Erwiderungsrecht entziehend, hatte der Kommilitone ihn der Wohnung verwiesen.
Nun stand er vor ihm, nach Jahren der Trennung. Bevor der Mann ihn fragen konnte, was ihn hierher verschlagen habe, wurde er von dem Begleiter des ehemaligen Kommilitonen angesprochen, einem bärtigen Türken. Dieser sagte, er habe den Mann lange beobachtet und dabei zweifelsfrei festgestellt, dass er ein Egozentriker sei, der niemanden zu Wort kommen lasse und immer nur von seinen eigenen Belangen erzähle. Weiterhin sei ihm unangenehm aufgefallen, dass der Mann ständig an seiner sich bei Sonnenlicht eindunkelnden Brille herumfummle und dass sich jeder, der währenddessen vor ihm stehe, auf entwürdigend verzerrte Weise in dieser Brille widerspiegele. Da ihm der bärtige Türke das Erwiderungsrecht nicht entzogen hatte, setzte der Mann gerade zu einer Antwort an, wurde aber von dem ehemaligen Kommilitonen abgewürgt, welcher den bärtigen Türken aus dem Fenster warf. Dann steckte er zwei Finger in das rechte Ohr des Mannes und kratzte eine beträchtliche Menge an Schuppen und Ohrenschmalz heraus. Der Mann schämte sich. Plötzlich begann der ehemalige Kommilitone laut und wiehernd zu lachen, wobei er seine langen Zähne entblößte. Der Mann konnte dieses Lachen nicht deuten. War es ein höhnisch-verächtlich-angewidertes Lachen, welches die damalige Freundschaftskündigung bestätigen sollte? Oder war es ein reuig-verschämt-begütigendes Lachen, welches die Wiederherstellung der einstigen Freundschaft einleiten sollte? Während er darüber nachdachte, versuchte er, seine schief sitzende Brille zurechtzurücken. Plötzlich hielt er inne und setzte die Brille ab, denn er befürchtete, der ehemalige Kommilitone würde sich darin auf entwürdigend verzerrte Weise widerspiegeln.
Die Kinderuniversität
Ein alter Mann mit weißen Haaren, Gründer der ersten Kinderuniversität, deren strenge Aufnahmeprüfung nur von wenigen bestanden worden war, stand am Rednerpult, um die feierliche Eröffnungsrede zu halten. Auf den Stühlen saßen die aufgenommenen Kinder, deren Eltern und Großeltern sowie Vertreter aus Politik und Medien. Kaum hatte der Mann die Anwesenden begrüßt, da begann ein Junge zu seinem Sitznachbarn zu sprechen. Der Mann unterbrach seine Rede und schaute den Jungen erstaunt an. Dieser, sei es aus Unverstand, sei es aus Trotz, redete weiter und erhob sogar die Stimme. Der Mann sagte noch immer nichts, zog aber die Augenbrauen zu einem mahnenden Gesichtsausdruck zusammen. Es half nichts. Auch der Sitznachbar des Jungen begann nun zu sprechen. Der Mann sah ihn mit dem gleichen mahnenden Gesichtsausdruck an, aber er reagierte ebenfalls nicht. Nun sah der Mann erstaunt die Eltern der beiden Jungen an. Anstatt für Ruhe zu sorgen und die Jungen zu maßregeln, begannen diese ebenfalls ein Gespräch. Der Mann schüttelte unmerklich mit dem Kopf, wandte sich wieder seiner Rede zu und sprach etwas lauter, als er es gewohnt war. Nach wenigen Sätzen musste er abbrechen, denn inzwischen wurde überall im Saal gesprochen. Der Mann holte tief Luft und sprach so laut, wie er konnte: „Ich bitte um Ruhe.“ Ein Zischen ging durch die Reihen. „Bitte hören Sie mich an! In der Pause wird es ausreichend Gelegenheit für Gespräche geben.“ Das Zischen wurde lauter und Rufe gesteigerten Unmuts ertönten: „Ruhe da oben!“, „Eingebildeter Wicht!“, „Kinderquäler!“
„Was ist denn los mit Ihnen?“, fragte der Mann bestürzt. „Nichts ist mit uns los“, schrie der Vater des Jungen, der zuerst gestört hatte, „wir lassen uns nur nicht mehr alles gefallen. Jetzt ist Schluss mit Ihrer Tyrannei!“ Er stand auf und brachte die anderen Zuhörer mit einer Handbewegung zum Schweigen. Dann trat er vor das Rednerpult, halb dem Mann, halb den Gästen zugewandt, und begann zu sprechen: „Die Zeit des Widerstandes ist gekommen. Machen wir Schluss mit dem Bildungsterror, bevor er anfängt! Wir haben Ihnen soeben eine letzte Chance gegeben, uns davon zu überzeugen, dass Sie kein Bildungsterrorist sind, sondern ein mitfühlender Mensch, dem etwas an unseren Kindern liegt, an dem größten Schatz, den wir haben, den auch Sie als Pädagoge haben, aber Sie haben diese Chance nicht genutzt, Sie haben sich in Ihren Bildungsterror eingemauert und darüber jedes Mitgefühl verloren. Sogar die natürlichsten Bedürfnisse der Kinder, zum Beispiel zu sprechen und sich mitzuteilen, werden rücksichtslos von Ihnen unterdrückt, indem Sie mit Ihrer Mimik einen gleichermaßen subtilen wie perfiden Druck auf die Kinder ausüben, einen Züchtigungsdruck, der diese zarten Seelen schädigen, verderben oder sogar töten kann. Das werden wir verhindern. Wir werden unsere Kinder retten, indem wir sie den Bildungsterroristen und dem Bildungsterror entziehen, indem wir ihnen ihre Kindheit wiedergeben, indem wir sie zu freien, selbstbestimmten Menschen machen, die nur dem Ruf ihres innersten Wesens folgen, damit ihr Leben wieder ein Quell der Freude, der Fantasie und des Tatendranges wird.“ Die Gäste erhoben sich und applaudierten in dröhnendem Gleichtakt. Nach einer kurzen Pause sprach der Vater weiter: „Im Namen des autonomen Schüler-, Eltern- und Großelternrates übergebe ich Ihnen hiermit die einstimmig für dieses Institut beschlossenen Änderungen der Lehrinhalte und Lehrmethoden. Wir sind nicht nachtragend oder rachsüchtig. Wir glauben sogar an das Gute in Ihnen, wie tief es auch verschüttet sein mag. Daher dürfen Sie weiterhin als Direktor und Lehrer an diesem Institut tätig sein, sofern Sie sich vollumfänglich unseren Beschlüssen fügen. Die entsprechenden Genehmigungen und Vollmachten sind von den anwesenden Vertretern der Politik bereits erteilt worden. Die anwesenden Vertreter der Medien dienen als Zeugen der Rechtmäßigkeit der geschilderten Beschlüsse und Vorgänge. Herr Direktor, wie lautet Ihre Entscheidung?
Der Giftzahn
Um Geld zu sparen, hatten ein Mann und seine Frau ein Zimmer gebucht, das mehrere nebeneinanderstehende Doppelbetten enthielt und zudem als Vortragsraum diente. Daher war es auch mit einem Pult, einer Videoleinwand und mehreren Stühlen ausgestattet.
Gegen Mittag wurde das Paar durch Gesprächslärm geweckt. Ein Strom von Vortragsgästen ergoss sich ins Zimmer, das inzwischen wie ein Kirchenraum wirkte. Bald mussten weitere Stühle herbeigeschafft werden. Sie reichten bis ans Fußende der Betten. Der Mann richtete sich auf und wandte sich seiner rechts neben ihm liegenden Frau zu. Er hatte vergessen, wie hoch die Ersparnis gegenüber einem herkömmlichen Doppelzimmer war, und wollte seine Frau diesbezüglich befragen, um gegebenenfalls erneut darüber zu beraten, ob die gegenwärtig erfahrenen Unannehmlichkeiten durch diese Ersparnis aufgewogen würden. Der Mann kam aber nicht dazu, denn plötzlich begann seine Frau zu schreien und zu treten.
Einer der Vortragsgäste, ein Mann mit Halbglatze und unbeweglicher Miene, hatte an ihrem Fußende auf einem schräg zum Bett stehenden Stuhl Platz genommen und dabei seinen rechten Arm auf den Füßen der Frau abgelegt. Alles Schreien und Treten half nichts. Stumm und mit unbeweglicher Miene legte der Gast seinen Arm immer wieder auf den Füßen ab.
Nun griff der Ehemann ein. Er rutschte zum Fußende des Bettes und drückte seinen Finger mehrmals in die rechte Wange des Gastes. Dieser verzog noch immer keine Miene und blickte sich nicht einmal nach dem Angreifer um. Erst als der Redner ans Pult trat und mit seinem Vortrag begann, nahm der Gast seinen Arm weg und richtete den Stuhl so aus, dass er mit der Rückenlehne zum Bett zeigte.
Plötzlich gingen die Lichter aus und auf der Leinwand wurde ein Film gezeigt. Zur Überraschung des Ehepaares erschien der Mann mit der Halbglatze und der unbeweglichen Miene in dem Film. Man sah eine Großaufnahme seines rechten Profils. Er hielt eine Giftschlange, die man im linken Profil sah, hinter dem Kopf, führte sie nah an sein Gesicht heran, begann wild zu schreien und biss ihr einen der Giftzähne ab.
Der Entwurf neuer Objekte
Ein Mann nahm an einer Besichtigung teil. Er ging mit einer kleinen Gruppe durch einen Komplex von Hallen und Räumen. Sie waren ungeheizt und enthielten seltsame Objekte. Niemand wusste, ob die Objekte für den praktischen Gebrauch bestimmt waren, zum Beispiel als Sportgerät, oder ob sie nur zur Anschauung dienten, zum Beispiel als Kunstwerk oder Lehrmittel.
Plötzlich ertönten Schreie. „Ein Mensch leidet Not“, sagte jemand aus der Gruppe, „es ist unsere Pflicht, ihn zu finden und aus seiner Not zu befreien.“ – „Fürwahr!“, sagten alle anderen wie aus einem Mund und rannten im Gleichschritt in die Halle, aus der die Schreie kamen. Der Mann war in großer Sorge, denn er glaubte, die Schreie wären von seinem besten Freund gekommen. In der nächsten Halle angekommen, sahen sie ein Objekt, das bis zur Decke reichte. Es bestand aus vielen scharfen Metallteilen, die in alle Richtungen stechende, hackende und sägende Bewegungen ausführten. Die Gruppe blieb erschrocken stehen. „Wehe, wehe“, sagte einer, „ich sehe Blut.“ Er deutete auf die Spitze des Objekts und alle öffneten den Mund zu einem stummen Schrei. „Wehe, wehe“, sagte ein Zweiter, „ich sehe Fleisch.“ Er deutete auf die Mitte des Objekts und aus dem stummen Schrei wurde ein wirklicher. „Wehe, wehe“, sagte ein Dritter, „ich sehe Knochen.“ Er deutete auf den Boden vor dem Gerät und aus dem wirklichen Schrei wurde wieder ein stummer.
„Ein Mensch litt Not“, sagte die Person von vorhin, „es ist unsere Pflicht, ihn zu finden und zu begraben.“ – „Fürwahr!“, flüsterten alle anderen wie aus einem Mund und folgten in schleichendem Gleichschritt der Spur aus Blut, Fleisch und Knochen. Sie führte durch eine Reihe von Hallen und Räumen, teilweise an weiteren Objekten vorbei, teilweise über sie hinüber. Irgendwann gab es keine Spur mehr. Offenbar hatte sich der Körper des gesuchten Menschen gänzlich in der Spur verbraucht. Die Gruppe bildete einen Kreis um den letzten Blutstropfen. Diesmal ergriff der Mann das Wort. Er sagte feierlich: „Wir werden das Andenken an unseren besten Freund auf ewig bewahren.“ – „Fürwahr!“, sagten alle anderen wie aus einem Mund und wischten sich die Tränen aus den Augen.
Dann gingen sie weiter und gelangten in einen Bereich mit kleineren und flacheren Räumen. Darin befanden sich keine seltsamen Objekte. Stattdessen waren die geheizten Räume mit altmodischen, aber bequemen Sitzmöbeln, langen Tischen und grünbeschirmten Lampen ausgestattet. Scheinbar waren es Seminarräume. „Hier sieht es aus wie zu meiner Zeit in Cambridge“, sagte der Mann, ohne zu wissen, wie er darauf kam. Da ihn die anderen respektvoll anblickten, bekräftigte er seine Aussage jedoch durch mehrfaches Nicken. Er spürte, dass er jetzt einen höheren Rang innerhalb der Gruppe bekleidete, und wollte diesen nicht durch das Eingestehen der Wahrheit verlieren. Er schritt mit gespieltem Selbstvertrauen voran und sagte: „Mal sehen, welche Seminare zur Auswahl stehen.“ Dann klopfte er an eine Tür, auf welcher „Direktor“ geschrieben stand, und öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten. In dem Raum saß ein alter Mann an einem wackligen Tisch und schmierte Marmelade auf Vollkornbrotscheiben. „Entschuldigung“, sagte er, „aber irgendwo muss ich ja hin, und essen muss ich auch irgendwann. Ich dachte, hier störe ich niemanden. Aber ich kann auch später essen. Bitte kommen Sie herein und bedienen Sie sich. Es gibt Vollkornbrot mit Erdbeermarmelade, Vollkornbrot mit Aprikosenmarmelade und Vollkornbrot mit Kirschmarmelade.“ – „Und was ist mit Pflaumenmus?“, fragte der Mann. „Pflaumenmus passt nicht zu Vollkornbrot“, sagte der Direktor. „Pflaumenmus passt nur zu Weißbrot. Und Weißbrot haben wir nicht. Darum haben wir auch kein Pflaumenmus.“ – „In Cambridge gab es immer Weißbrot mit Pflaumenmus“, sagte der Mann, um den Direktor zu demütigen. „Das habe ich auch gehört“, sagte der Direktor und senkte den Kopf. „Nun aber zur Sache“, sagte der Mann, „wir sind hier, um uns die Seminarliste Ihres Instituts anzuschauen.“ – „Sehr gern“, sagte der Direktor, pustete die Vollkornbrotkrümel vom Schreibtisch und nahm einen Zettel in die Hand. „Es gibt noch freie Plätze in allen Theorie- und Praxiskursen. Kurs 1: Reparatur alter Objekte. Kurs 2: Abbau nicht mehr reparierbarer alter Objekte. Kurs 3: Entwurf neuer Objekte. Kurs 4: Aufbau neuer Objekte.“ – „Von welchen Objekten sprechen Sie?“, fragte der Mann. „Das wissen Sie nicht? Sie sind doch an ihnen vorbeigelaufen. Die Hallen und Räume sind voll davon.“ – „Ach, diese Objekte meinen Sie. Was sind denn das für Objekte?“ – „Das wissen Sie nicht? Sie haben doch gesehen, was aus Ihrem Freund geworden ist.“ – „Wenn das so ist, möchte ich mich für Kurs 3 anmelden: Entwurf neuer Objekte.“ – „Einverstanden. Und was ist mit Ihren Begleitern?“ – „Kurs 4“, riefen alle wie aus einem Mund, „Aufbau neuer Objekte.“
Im Bergwerk
Ein altes Ehepaar nahm an der Besichtigung eines stillgelegten Bergwerks teil. Plötzlich verspürte die Frau starken Harndrang. Sie tippte ihrem Mann auf die Schulter und machte ihn pantomimisch auf ihre Notlage aufmerksam, indem sie mit den Beinen ein X bildete, mit beiden Zeigefingern auf ihren Unterleib wies, die Augen schloss und das Gesicht verzog. Der Mann nickte und ging mit seiner Frau in einen dunklen Seitenschacht. Dann zog er ihren Rock, ihre Strumpfhose und ihre Unterhose hinunter und stellte sich hinter sie. Die Frau ging in die Hocke und ließ sich wie ein kleines Mädchen an den leicht gespreizten hinteren Oberschenkeln zum Urinieren hochheben. Offenbar war dies ein eingespielter Vorgang, denn der Mann vermochte eine Besudelung der beiden zu verhindern. Nachdem er seine Frau einige Male geschüttelt hatte, um deren Unterhose auch nach dem Anziehen trocken zu halten, setzte er ihre Füße geschickt auf dem Boden ab und zog ihre Unterhose, ihre Strumpfhose und ihren Rock hoch.
Das Ehepaar wollte den Seitenschacht gerade verlassen, da hörte es Schritte. Sie kamen aus der Tiefe des Schachtes. „Ist da jemand?“, fragte der Mann. „Ja“, antwortete die Stimme eines jungen Mannes, „ich bin es, Sie wissen schon.“ Der Mann bejahte die Frage, denn die Stimme des Fremden erweckte sein Mitleid und er wollte ihn nicht kränken. „Ich hätte wissen müssen, dass ich mich nirgends verstecken kann“, sagte die Stimme. „Heute werden schließlich die Ergebnisse bekannt gegeben.“ – „Ja“, log der Mann, „das ist allgemein bekannt.“ – „Und wissen Sie auch“, fragte die Stimme, „warum ich mich vor diesen Ergebnissen fürchte, obwohl ich nur in der Kontrollgruppe war?“ – „In der Kontrollgruppe, das hätte ich nicht gedacht“, sagte der Mann, um die Hintergründe der Geschichte zu erfahren. „Ja“, antwortete die Stimme, „man sieht es mir nicht an, aber ich war nur in der Kontrollgruppe. Man hat uns alle für 12 Minuten ins Weltall geschickt, um die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf normale Menschen zu testen.“
Nun schaltete sich die Frau in das Gespräch ein. „Wenn Sie nur in der Kontrollgruppe waren, dann müssen Sie sich doch keine Sorgen machen.“ – „Und warum nicht?“, fragte die Stimme. „Ganz einfach“, sagte die Frau, „von Ihnen und Ihresgleichen wird immer nur das Schlechteste erwartet, Sie und Ihresgleichen können niemanden enttäuschen. Wenn es aber bei den Normalen unerfreuliche Ergebnisse gäbe, dann hätten die Normalen plötzlich einen Grund zur Sorge, dann könnte sich plötzlich alles ändern, einfach alles, verstehen Sie.“ – „So habe ich das noch gar nicht betrachtet“, sagte die Stimme, „vielleicht besteht ja wirklich kein Grund zur Sorge.“ – „Freuen Sie sich nicht zu früh“, sagte der Mann. „Unerfreuliche Ergebnisse werden selten bekannt gegeben. Und als potenzieller Zeuge potenziell unerfreulicher Ergebnisse wird es besser sein, wenn Sie in diesem Schacht bleiben. Aber achten Sie darauf, wo Sie hintreten, meine Frau hat hier gerade ihre Notdurft verrichtet.“
Während das Ehepaar zum beleuchteten Hauptschacht zurückkehrte, verloren sich die Schrittgeräusche des Fremden in der dunklen Tiefe des Seitenschachtes.
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