Traum-Haft Teil 1 - Leseprobe
- Schreibtischtäter
- 16. März
- 20 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. März

Die Jungfrau
Ein Mann ging mit einer Frau spazieren. Sie war hager, hatte eine hohe Stirn, dünnes braunes Haar und gelbliche Zähne. Er kannte sie aus der Gymnasialzeit und nahm an, dass sie wie damals noch immer Jungfrau war.
Offenbar hatte er sie bereits öfter getroffen, denn als sie kurz vor einer Brücke stehen blieb, fragte sie ihn, wie er anderen Leuten, auf sie beide angesprochen, erklären würde, in welchem Verhältnis sie zueinander stünden. Der Mann geriet in Verlegenheit. Um sich etwas Zeit zu verschaffen und um zugleich aus der Defensive zu kommen, sagte er, sie solle sich nicht so umständlich ausdrücken, sondern direkt nach ihrem gemeinsamen Status fragen. Die Frau antwortete nicht und blickte dem Mann unverwandt in die Augen. Er senkte den Kopf und horchte in sich hinein. Er hatte sich bislang keine Rechenschaft über seine Gefühle und Bedürfnisse gegeben. Jetzt wurde ihm klar, dass er von der mutmaßlichen Jungfräulichkeit in gleichem Maße angezogen wie abgestoßen wurde. Einerseits fühlte er sich sicher, weil er glaubte, die Frau wäre ein in allen Belangen körperlicher Nähe dankbares, anspruchsloses und duldsames Geschöpf. Andererseits befürchtete er, die langjährigen Entbehrungen der Frau hätten sich zu einer Unbarmherzigkeit und Unersättlichkeit aufgestaut, die ihn verschlingen würden.
Die beiden setzten ihren Spaziergang wortlos in Richtung der Brücke fort. Noch immer unentschlossen, ob und was er antworten sollte, berührte der Mann mit seiner linken Hand die rechte Hand der Frau. Beide Hände schwitzten und das Herz des Mannes schlug bis zum Hals.
Noli me tangere
Ein schmächtiger, blasser Mann, der bereits in frühester Kindheit durch sein musikalisches Talent aufgefallen war und als Jugendlicher das Konservatorium in den Fächern „Klavier“ und „Komposition“ mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, lebte zurückgezogen auf dem Land.
Obgleich sowohl seine Klavieraufnahmen, deren Besonderheit darin bestand, dass er einzelne Werke in vielen unterschiedlichen Interpretationen darbot, als auch seine Kompositionen, deren Bandbreite von der strengsten bis zur aufgelösten Form reichte, in der Fachwelt für Aufsehen sorgten, war er dem größeren Publikum unbekannt, denn wegen seiner unüberwindbaren Menschen- und Bühnenangst trat er öffentlich nicht in Erscheinung. Er hatte sein eigenes Tonstudio und pflegte nur mit sehr wenigen Menschen Umgang. Vor allem versuchte er Gruppensituationen und Kontakte mit Fremden zu vermeiden. Bereits der Anblick eines ungewohnten Paketboten oder einer ungewohnten Kassiererin trieben seinen Puls in die Höhe und störten die Wärmeregulation seines Körpers. Andererseits verdankte er seine eindringlichsten und gewagtesten Werke gerade jenen ungewohnten Begegnungen, als ob sich die Erschütterungen, die sie in ihm auslösten, bis in die feinsten Verästelungen seiner Nervenbahnen fortsetzten und dort für ungeahnte Verknüpfungen und Entladungen sorgten. Allerdings mussten diese Erschütterungen wohl dosiert sein, andernfalls, etwa wenn der ungewohnte Paketbote zusätzlich einen unangenehmen Akzent hatte oder wenn die ungewohnte Kassiererin ihn beim Hinüberreichen der Ware zusätzlich an der Hand berührte, konnte es vorkommen, dass er tagelang außerstande war zu arbeiten.
Sein einziger Freund, ein wohlhabender Bauer mit schütterem Haar und Knollnase, der stets in Hemd und Pullover herumlief, lebte auf dem Nachbargrundstück. Er war vieles in einem: feinfühlig und draufgängerisch, gebildet und naturverbunden, selbstgenügsam und gesellig. Vor allem verstand er es, Kunst und Leben gleichermaßen zu genießen. Bisweilen wunderte sich der Mann, dass der einzige Mensch, mit dem er befreundet war, kein Sonderling war wie er selbst, sondern jemand, der sich überall zurechtfand und der mit allen umgehen konnte. Er erklärte es sich damit, dass derjenige, der das Ganze in sich vereinte, eben auch den kleinsten Teil umfasste, während zwei Sonderlinge wie zwei kleine abgesprengte Teile wären, die zwar einander glichen, aber nicht zusammenpassten.
Der Mann kam gerade von einem Lebensmitteleinkauf zurück. Da er ohne Berührung von der gewohnten Kassiererin bedient worden war, befand er sich in gelöster Stimmung und pfiff die Melodie von „Steuermann, lass die Wacht!“ vor sich hin. Als er an dem Grundstück seines Freundes vorbeilief, trat dieser in Begleitung einer jungen Frau aus dem Tor. Sie hatte kurze blonde Haare und blaue Augen, trug ein rotes enganliegendes Oberteil mit dünnen Trägern und eine graue Hose mit leichtem Schlag, dazu Absatzschuhe. „Komm mal her“, rief sein Freund, „ich möchte dir jemanden vorstellen! Das ist Frau Holm, sie möchte ein Festival für neue Musik ins Leben rufen und da sie weiß, dass ich mit dir befreundet bin, hat sie mich gebeten, euch miteinander bekannt zu machen. Ich wollte erst mit dir allein darüber sprechen, aber da wir uns nun zufällig über den Weg laufen, wollte ich Frau Holm gegenüber nicht unhöflich sein und nicht so tun, als hätte ich dich nicht gesehen oder als wärst du ein Fremder. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel.“ – „Warum denn so förmlich?“, sagte die Frau und kniff dem Freund in die Nase, „eben war ich noch ‚die blonde Inge‛ für dich.“ Dann ging sie zu dem Mann, umarmte ihn so fest, dass er ihre prallen Brüste spürte, und küsste ihn auf beide Wangen. Der Mann bekam starkes Herzklopfen und begann zu schwitzen. In seiner Verlegenheit wandte er sich ab, riss von dem am Wegesrand stehenden Großen Springkraut einen Zweig mit Blüte und riesiger Fruchtkapsel ab und überreichte ihn der Frau, ohne ein Wort zu sagen. Als sie die Fruchtkapsel berührte, platzte diese aufgrund des Zellsaftdrucks entlang der Nähte auf und schleuderte unzählige Samen samt Zellsaft in das Gesicht und in das Dekolleté der Frau. Während der Mann abwechselnd errötete und erbleichte, verfiel die Frau in ein obszönes Lachen, wischte sich die Samen samt Zellsaft aus dem Gesicht und leckte sie sich von den Fingern. „Sie sind mir ja ein Früchtchen!“, sagte sie, indem sie den Mann an der Hand nahm und in das Haus des Freundes fortzog. „Wenn ich mich umgezogen habe, unterhalten wir uns über Ihren Beitrag zum Festival. Unser gemeinsamer Freund wird mir sicherlich Wechselkleidung zur Verfügung stellen können.“
Offenbar hatte ihr gemeinsamer Freund dies nicht tun können, denn die Frau saß plötzlich ohne Oberbekleidung neben dem Mann am Tisch und klimperte auf einem kleinen Keyboard herum. Sie unterbrach ihr Spiel, drehte sich zu dem Mann um und sagte: „Wir Kunstliebhaber und Künstler sind schon ein besonderes Volk, wir müssen zusammenhalten, denn wahrhaft verstanden werden wir nur von unseresgleichen. Ist es nicht so?“ Ohne die Antwort des schwitzenden Mannes abzuwarten, wandte sie sich dem Keyboard zu und klimperte weiter. Dem Mann tat es in den Ohren weh, aber er vermochte weder, etwas zu sagen, noch, sich zu entfernen. „Und jetzt“, sagte die Frau, indem sie sich abrupt umdrehte und das Keyboard hinüberschob, „jetzt spielen Sie etwas, mein keckes Meisterlein!“ Der Mann musste unentwegt auf die prallen Brüste der Frau starren und begann zu frieren, als ob er es wäre, der unbekleidet wäre. „Los“, sagte die Frau und leckte sich die Oberlippe, „spielen Sie etwas für mich!“ Der Mann streckte beide Zeigefinger nach unten und spielte mit einigen Fehlern und Unterbrechungen die Melodie von „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“. Die Frau klatschte begeistert in die Hände und küsste den Mann auf die Nase. „Einfach Meisterhaft“, sagte sie, „meisterhaft schlicht und meisterhaft unbeholfen, einfach meisterhaft! Der Tiefsinn im Gewand der Idiotie und die Tragik im Gewand der Unbekümmertheit – das kann nur ein wahrer Meister. Aber Sie schwitzen ja! Kein Wunder, Sie haben sich völlig verausgabt bei der Darbietung Ihres Meisterwerkes. Sie müssen furchtbaren Durst haben. Hier, trinken Sie etwas!“ Die Frau hob ihre Brüste an und richtete die Brustwarzen auf das Gesicht des Mannes. Der Mann öffnete unwillkürlich den Mund und trank die in zwei kräftigen Strahlen auf ihn einprasselnde Muttermilch.
Plötzlich öffnete sich die Klappe eines Wandschranks und der zusammengekauerte Freund des Mannes kam zum Vorschein. Er hielt eine Schrotflinte in der Hand, richtete sie auf den Mann und sagte: „Nimm, du brauchst nicht Gänsebraten, mit der Maus vorlieb!“ Dann drückte er ab. Jedoch verfehlte er den Mann und fiel durch den Rückstoß aus dem Schrank. Als er auf dem Boden aufschlug, verwandelte er sich in eine Maus, rannte zu dem Mann und kletterte auf dessen Schoß. Während der Mann noch immer gierig die Milch trank und dabei die Maus streichelte, fühlte er seine Stimme und seine Kraft zurückkehren. Er sagte:
„Ich geb´ sie beide nimmer her,
Die Gans nicht und auch nicht die Maus.
Von hier verjagt mich kein Gewehr,
Ich hab´ allhier den feinsten Schmaus.“
„Meisterhaft, einfach meisterhaft!“, sagte die Frau überschwänglich. Dann sprang sie auf, riss den Mann aus dem Stuhl und begann, wild mit ihm zu tanzen. Es war ein Tanz ohne Musik und ohne Ende.
Die Beerdigung
Ein Mann war in Gedanken versunken und schrak zusammen, als er die laut aufwallende, scharf betonende Stimme einer Frau hörte. Kurz darauf verfiel die Frau in ein säuselndes Flüstern, das sich ebenso unvermittelt in einen jaulenden Singsang verwandelte. Diese schroffen Gegensätze und Brüche setzten sich während der folgenden Rede fort. Der Mann verstand nur einzelne Worte und Satzfetzen, die er sofort wieder vergaß. Nur der Schreck, der ihn wie ein Krampf durchzuckt hatte, wirkte noch nach.
Zunächst hatte er gedacht, er wäre in einer Theatervorstellung. Als er den Kopf hob und sich umsah, wurde ihm jedoch bewusst, dass er sich auf einer Trauerveranstaltung befand. Vor ihm, an einem Pult, stand die mit fasanenhafter Gebärde agierende Trauerrednerin, daneben, auf einer Rollvorrichtung, stand ein mit Schnitzereien verzierter und von Blumenkränzen umgebener Eichensarg. Neben und hinter dem Mann saßen zahlreiche schluchzende Trauergäste. Offenbar war der Mann mit dem Verstorbenen näher verwandt oder bekannt, denn er saß in der ersten Reihe.
Die Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster der Kapelle auf den Hinterkopf des Mannes. Er hörte ein Knistern und verspürte ein Brennen, blieb jedoch regungslos sitzen, um die Veranstaltung nicht zu stören. Das Brennen steigerte sich zu einem unerträglichen Schmerz. Außerdem roch es nach Verkohltem. Da schlug ihm jemand mit einem Stück Stoff, wahrscheinlich mit einem Schal oder einem Jackett, auf den Hinterkopf und pustete. Der Schmerz ließ nach. Um kein Aufsehen zu erregen, verharrte der Mann regungslos auf seinem Platz. Dann wandte er vorsichtig den Kopf nach hinten und betrachtete erneut die Trauergäste. Einige glaubte er zu kennen, aber er wusste nicht woher. Als sie ihm mit ihren Taschentüchern zuwinkten, nickte er aus Höflichkeit.
Plötzlich verstummte die theatralische Rednerin. Den Moment der Stille empfand der Mann wie eine Erlösung und zugleich wie den Sturz von einem Felsen. Dann setzte Musik ein. Der Mann überlegte, welches Stück und von welchem Komponisten es war. Schubert, dachte er. Nein, nicht Schubert, sondern Beethoven, Streichquartett Nr. 11, 4. Satz. Es ärgerte ihn, dass er Schubert schon wieder mit Beethoven verwechselt hatte. Wie kann man seinen Lieblingskomponisten mit einem anderen verwechseln? Andererseits spricht es für Beethoven, er hat eben Schubert vorausgedacht. Und ich habe Schubert in Beethoven gehört, ich habe gehört, was Schubert in Beethoven gehört und dann zu sich selbst gemacht hat. Im Grunde genommen war es also doch Schubert. Das Stück brach ab und ein neues erklang: der „Kaiserwalzer“. Nein, dachte der Mann, nicht Strauß, bitte nicht Strauß. Ihm wurde übel – wie immer bei Strauß. Um sich nicht in der Kapelle übergeben zu müssen, rannte er hinaus. Unterdessen begannen die Trauergäste zu tanzen und tauschten dabei auch die Partner.
Draußen verschwand die Übelkeit. Der Mann wollte zurück in die Kapelle gehen, aber die Trauergäste, angeführt von den Sargträgern, kamen ihm bereits entgegen. Als er sich eingereiht hatte, fiel ihm auf, dass der Sarg nicht getragen, sondern auf einer Rollvorrichtung geschoben wurde. Eine verschleierte Frau stieß ihm in die Seite, reichte ihm vier Geldscheine und forderte ihn auf, sie nachher den Sargträgern diskret zuzustecken. Der Mann trat an einen der Sargträger heran, hielt seinen Mund an dessen Ohr und fragte ihn flüsternd im Gehen, ob er und seine Kollegen angesichts der Tatsache, den Sarg lediglich mittels einer Rollvorrichtung zu bewegen, noch immer offiziell als Sargträger bezeichnet würden und, wenn ja, ob er diese Bezeichnung nicht für vermessen halte, ob er nicht der Meinung sei, er verdiene lediglich die Bezeichnung „Sargschieber“ oder „Sargrollvorrichtungsbediener“. Der Sargträger gab zischende Laute von sich und wedelte mit der freien Hand, als wollte er eine Fliege aus seinem Nacken verscheuchen. Der Mann trat zurück in die Reihe, sah die verschleierte Frau achselzuckend an und wollte ihr gerade die Geldscheine zurückgeben, da erkannte er auf ihnen sein eigenes Portrait. Er deutete dies als Wink des Schicksals, als Anerkennung dafür, das Geld nicht zweckentfremdet ausgegeben zu haben, und steckte es ein.
Nachdem der Sarg zur Grabstelle gebracht worden war, ließen die Sargträger ihn langsam an vier Seilen hinuntergleiten. Wieder trat der Mann an den einen Sargträger heran und flüsterte ihm zu, dass er sich entschuldigen müsse, er habe vorhin nicht despektierlich sein wollen, jetzt sehe er, dass es sich bei den vier Männern nicht nur um Sargschieber oder Sargrollvorrichtungsbediener handle, sondern auch um Sarghalter und Sarghinablasser, aber Schuldgefühle hätte er wegen des ihnen vorenthaltenen Geldes nicht, denn es sei ausdrücklich für die Sargträger bestimmt gewesen und ein bloßes Halten des Sarges, ohne längere Laufbewegung, mache sie eben noch nicht zu Sargträgern. Er mache ihnen daraus aber keinen Vorwurf, die Technik und die Rituale würden sich eben schneller entwickeln als die Sprache. Da der Sargträger beide Hände am Seil hatte, konnte er diesmal nur zischen, um den Mann zu vertreiben. Dieser trat zurück, damit die nächsten Angehörigen ans Grab treten und sich mit Erde und Blüten letztmalig von dem Verstorbenen verabschieden konnten.
Die verschleierte Frau, von zwei Männern gestützt, wahrscheinlich ihren Söhnen, kam nach vorne, warf zunächst drei Hände voll Erde ins Grab hinab und griff dann in die Blütenschale. „Nimm nicht so viele, die anderen Gäste wollen auch noch welche haben!“, schrie der eine Sohn. „Was fällt dir ein, so mit unserer Mutter zu sprechen, sammle lieber die Blüten auf, die neben das Grab gefallen sind!“, schrie der andere Sohn. Der erste Sohn tat, wie ihm geheißen. Unterdessen konnte sich die verschleierte Frau kaum noch auf den Beinen halten und ließ weitere Blüten fallen. „Pass doch auf“, schrie der erste Sohn, „ich habe gerade erst die anderen aufgesammelt!“ – „Schweig und sammle weiter!“, schrie der zweite Sohn. Wieder kam die verschleierte Frau ins Wanken und ließ nun alle Blüten fallen. Nach und nach mischten sich die Trauergäste ein, indem sie mit ausgestreckten Armen auf die verstreuten Blüten wiesen und dabei riefen: „Da!“, „Da sind noch welche!“, „Schaut mal da!“
Der Mann kratzte sich irritiert am Kopf. Dabei stellte er mit Schrecken fest, dass er auf kreisförmigen Fläche keine Haare mehr hatte. Sie mussten vorhin von der Sonne verbrannt worden sein. Wenn er schon wie ein Mönch aussähe, dachte der Mann, könnte er auch wie einer einer leben. Er holte die Geldscheine hervor, steckte sie den Sargträgern zu und ging in einem Gefühl vergnügter Läuterung davon. Dabei pfiff er „Die Wut über den verlorenen Groschen“ vor sich hin. Was für ein Genie, dieser Schubert, dachte er.
Der Krieger und die Lichtfrau
Ein Mann kämpfte sich mit seinem Schwert durch das Dickicht eines Waldes. Es dämmerte. Der Mann fror und verspürte starke Schmerzen. Als er eine kleine Lichtung betrat, sah er, woher die Schmerzen rührten. Er hatte am ganzen Körper Stich- und Bisswunden, in die bereits Dreck und Schweiß gelangt waren. Offenkundig war er in schwere Kämpfe verwickelt gewesen. Ob er Angreifer oder Verteidiger gewesen war, ob er auch jemanden verletzt oder sogar getötet hatte, ob er Schuld auf sich geladen oder Schuld gerächt hatte – all das wusste er nicht mehr. Er wusste nur, dass er ein Krieger war.
Er kämpfte sich weiter durch das Dickicht, bis er an einen Bach gelangte. Dort reinigte er seine Wunden und stillte seinen Durst. Dann machte er sich einen Schlafplatz aus Laub zurecht und legte sich nieder. Kaum hatte er die Augen geschlossen, hörte er seltsame Klänge. Etwas Derartiges hatte er noch nie zuvor gehört. Gleichsam willenlos stand er auf und ging der Klangquelle entgegen. Es war eine mondlose Nacht. Die Klänge wurden lauter und lauter. Hinter der nächsten Anhöhe löste sich das Rätsel.
Der Mann erblickte eine schwebende weibliche Gestalt vor einem grellen, sie gleichsam durchdringenden Licht. Das Herz der Gestalt schien ein pulsierender Kristall zu sein, welcher die hypnotischen Sphärenklänge erzeugte und dem Körper entströmen ließ. Die Gestalt hatte blütenweiße Haut, kohlenschwarzes Haar und blutrote Lippen. Sie trug mehrere Lagen durchsichtiger Kleidung, die durch die fließenden Bewegungen von Armen, Oberkörper und Hüfte in der Luft wehten. Ein fast quälender Liebreiz ging von der Erscheinung aus, ein Liebreiz, der keine Wollust in dem Mann entfachte, sondern Demut und Ehrfurcht. Der Mann wollte der Erscheinung entgegengehen, aber er zögerte, denn er konnte nicht erkennen, ob sie über einem Berg oder über einem Abgrund schwebte. Würde sie ihn erheben oder hinabstürzen, wäre sie seine Erlösung oder sein Verderben?
Die Mutter
Ein kahlköpfiger, schwarzgekleideter Mann, der seine angesehene und gut bezahlte Stelle als Universitätsprofessor zugunsten einer Stelle als Gymnasiallehrer aufgegeben hatte, weil er lieber einen prägenden als einen verfeinernden Einfluss auf die Entwicklung junger Menschen ausüben wollte, beendete gerade den letzten Elternabend des Schuljahres. Trotz engagierter Unterrichtsarbeit und ehrenamtlicher Förderangebote war es ihm nicht gelungen, alle Schüler seiner siebten Klasse auf das für die Versetzung erforderliche Leistungsniveau zu bringen.
Nachdem er während des Elternabends nur eine allgemeine Auswertung der Verhaltens- und Leistungsentwicklung seiner Schüler vorgenommen hatte, bat er die Eltern des einzigen Schülers, der nicht versetzt wurde, für ein klärendes Nachgespräch zu bleiben. Der Vater des Jungen, ein kleiner zierlicher Mann, der in sich gekehrt und grüblerisch wirkte, nahm nickend Platz, wurde aber sofort von der Mutter, einer großen üppigen Frau im grauen Kleid, am Kragen hochgezogen. „Wir haben auch mit Ihnen zu reden“, sagte sie schroff, „aber nicht hier, sondern bei uns zu Hause. Packen Sie Ihre Sachen zusammen und fahren Sie uns hinterher!“
Der Mann war so vor den Kopf gestoßen, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte und erst wieder bei Sinnen war, als er seinen Wagen, einen grauen Volvo 244 GL, hinter dem Wagen der Eltern, einem zweitürigen Golf 4 in Cosmic Green Metallic, eingeparkt hatte. Die Frau stieg auf der Fahrerseite aus und klappte die Rückenlehne nach vorne, damit ihr Mann, der wegen des mit einem Kindersitz belegten Beifahrersitzes nicht nach vorne durfte, aussteigen konnte. „Pass auf deinem Kopf auf!“, sagte sie zu ihm, nachdem er sich den Kopf an der Dachkante gestoßen hatte. „Du grübelst doch so gerne, dann solltest du auch besser auf deinen Kopf achtgeben. Ich kann dich nicht vor allen Gefahren beschützen.“ Dann nahm sie beide Männer an der Hand und zog sie mit sich fort.
Vor der Wohnungstür angekommen, sagte sie zu dem Mann, er solle sich die Schuhe ausziehen, sie dulde keinen Dreck in der Wohnung. Der Mann tat es und folgte dem Ehepaar in den schmalen, mit Schuhschränken vollgestellten Flur, durch den man sich nur seitlich bewegen konnte. „Waschen Sie sich die Hände und kommen Sie danach ins Wohnzimmer!“, sagte die Frau. Der Mann tat es. Als er das Wohnzimmer betrat, sprang ihn ein weißer Pudel mit dreckigen Pfoten an und leckte an seinen Händen. Der Mann wischte sich den Dreck von der Hose und wollte sich noch einmal die Hände waschen. „Wo wollen Sie denn hin?“, fragte die Frau. „Händewaschen“, sagte der Mann. „Wieso denn das“, fragte die Frau, „haben Sie etwas gegen Hunde? Es würde mich nicht wundern, wenn Sie ein Hundehasser wären. Es würde zu dem Verhalten passen, das Sie unserem Sohn gegenüber an den Tag legen, denn auch das ist frei von Empathie und Verantwortungsgefühl. Und jetzt kommen Sie endlich her! Da, setzen Sie sich auf den Stuhl! Sie erwarten hoffentlich nicht, dass wir Sie auch noch beköstigen – nach allem, was Sie unserem Sohn angetan haben.“
In diesem Augenblick betrat der Sohn das Wohnzimmer, grinste den Mann an und setzte sich auf den Schoss der Mutter, die ihn zu streicheln und zu küssen begann. Der Junge hatte die zierliche Figur des Vaters und das dominante Auftreten der Mutter. Sein Grinsen erschien wie eingemeißelt und war schwer zu deuten. Entweder war es der Ausdruck unbekümmerter Lebensfreude, oder es war der Ausdruck bösartiger Überheblichkeit. „So“, sagte die Mutter, „Sie sind also der Meinung, dass unser Sohn plötzlich nicht mehr gut genug fürs Gymnasium ist, obwohl er die Grundschule mit den besten Empfehlungen abgeschlossen und auch im Gymnasium immer sein Bestes gegeben und nie Probleme gehabt hat. Wie kann das sein, frage ich Sie? Was haben Sie plötzlich gegen unseren Sohn oder gegen uns? Warum wollen Sie seine Karriere und sein Leben zerstören? Warum wollen Sie uns demütigen?“
Der Mann räusperte sich und antwortete mit ruhiger Stimme: „Ich möchte niemanden demütigen. Ich möchte keine Karriere und kein Leben zerstören. Ich habe nichts gegen Sie oder Ihren Sohn. Leider hat er seit Beginn des Schuljahres die größten Schwierigkeiten damit, den Lernstoff zu bewältigen, und ließ auch keinerlei Lernanstrengung erkennen, weder im Pflichtunterricht noch in dem von mir angebotenen Förderunterricht. Auch die Abschlussnoten der Grundschulzeit waren schlecht und die Empfehlungen bezogen sich auf eine besondere Hilfebedürftigkeit Ihres Sohnes. Kurzum, Ihr Sohn war von Anfang an nicht für das Gymnasium geeignet, weil er weder den nötigen Willen noch die nötigen Fähigkeiten besitzt, um den Anforderungen gerecht zu werden. Darüber habe ich Sie mehrfach seit dem ersten Elternabend in Kenntnis gesetzt.“
Während der Ausführungen war die Mutter wutentbrannt aufgesprungen und mit ihrem Sohn auf dem Arm im Wohnzimmer hin und her gegangen. „Weder fehlt es unserem Sohn an dem nötigen Willen“, sagte sie nun, wobei sich ihre Augen rot färbten und ihre Haare zu weißen Locken zusammenzogen, „noch fehlt es ihm an den nötigen Fähigkeiten, aber selbst wenn es unserem Sohn an dem nötigen Willen und an den nötigen Fähigkeiten fehlen sollte, wäre es Ihre Aufgabe, den nötigen Willen in ihm zu wecken und die nötigen Fähigkeiten in ihm zu entwickeln.“
Als der Mann die Mutter betrachtete, die jetzt so schnell hin und her lief, dass sie ihren Sohn fallen ließ, hatte er den Eindruck, das Wohnzimmer wäre geschrumpft, denn immer nach zwei Schritten musste sie kehrtmachen. Plötzlich tropfte Blut aus ihren Augen und ihr Kopf war der eines Pudels. Dennoch sprach sie mit derselben Stimme weiter. „Es gab noch nie Probleme mit unserem Sohn, weder mit seinem Verhalten noch mit seinen Leistungen, also muss es an Ihnen liegen, Sie sind schuld an dem schlechten Verhalten und an den schlechten Leistungen unseres Sohnes. Zwar verhält er sich nicht schlecht und erbringt auch keine schlechten Leistungen, weshalb Sie ein Lügner sind, aber wenn er sich schlecht verhalten und schlechte Leistungen erbringen würde, wären Sie schuld, weshalb sie ein Versager sind. Es ist ja allgemein bekannt, dass Sie auch bei Ihrer letzten Arbeit versagt haben, sonst wären Sie nicht hinausgeworfen worden, das wissen alle. Und jetzt versagen Sie erneut und zerstören dabei die Karriere und das Leben unserer Kinder.“
Sie beschleunigte ihren Gang dermaßen, dass sie ihren Sohn, ohne es zu merken, mit dem Fuß in die andere Ecke des Zimmers stieß, wo er lautstark zu weinen begann, obgleich das Grinsen noch immer nicht aus seinem Gesicht gewichen war. Die Mutter achtete nicht auf ihn, sondern riss ihr graues Kleid in Fetzen und verband sich die blutenden Augen damit. Der Mann konnte sehen, dass sich ihre Haut, von der ein übler Gestank ausging, schwarz verfärbte und dass aus den Schulterblättern Fledermausflügel herauswuchsen.
„Jeder, der aufs Gymnasium geht“, sagte sie, „hat, weil er aufs Gymnasium geht, das Recht, das Gymnasium zu bestehen. Wenn jemand, der aufs Gymnasium geht, das Gymnasium nicht besteht, dann nimmt man ihm das Recht, das er, weil er aufs Gymnasium geht, hat.“
Das Wohnzimmer und die gesamte Wohnung waren inzwischen so stark zusammengeschrumpft, dass die Mutter lediglich den Arm auszustrecken brauchte, um das Schwert zu ergreifen, das unter dem Schlafzimmerbett lag. Den Oberkörper zurückbiegend, um mit dem Hundekopf, der nun von Schlangenhaaren bedeckt war, nicht an die Decke zu stoßen, holte sie mit dem Schwert aus, rammte es vor dem Mann in den Boden und sagte: „Wenn du nicht in tausend Stücke gehackt werden willst, dann gehst du jetzt ins Kinderzimmer, legst dich ohne Abendbrot ins Bett und denkst bis morgen früh darüber nach, was du falsch gemacht hast.“
Der Mann kroch ins Kinderzimmer, aber das Bett war schon mit dem zusammengekauerten Vater belegt. Er legte sich mit dem Rücken auf den Vater, sodass der Boden des Bettes durchbrach. Dann überlegte der Mann, ob er in der Grundschule einen größeren oder einen noch geringeren Einfluss auf die Entwicklung der Kinder hätte.
Ärger mit Schopenhauer
Eine Frau in den Vierzigern war mit ihrer siebenjährigen Tochter auf dem Weg zum Spielplatz. Dabei entdeckte sie auf einer nahegelegenen Parkbank einen Nachbarn, mit dem sie oft über ihre Sorgen und Nöte sprach. Das ungeduldige Kind mit sich zerrend, welches zu den vom Klettergerüst winkenden Freundinnen eilen wollte, ging sie auf den Nachbarn zu. Er nahm zunächst keine Notiz von Ihr, da er in ein lebhaftes Gespräch mit einem vor ihm stehenden Mann vertieft war, der einen braunen Pudel an der Leine hielt. Der Hundehalter hatte eine von vielen Querfurchen durchzogene Halbglatze, wirres graues Haar, das wie Flammen emporschoss, und einen kurzen grauen Backenbart. Außerdem war er sehr altmodisch gekleidet. Die Frau wollte das Gespräch nicht unterbrechen und blieb verlegen stehen.
„Wir gehen zum Spielplatz“, rief das Mädchen plötzlich ungeniert zu dem Nachbarn, „kommst du mit?“ Noch bevor es von der errötenden Mutter zurechtgewiesen werden konnte, sagte der Nachbar: „Ja, gleich, aber vorher muss ich Schopenhauer noch davon überzeugen, dass seine Lehre von der „Verneinung des Willens zum Leben“ bloßer Selbstbetrug und metaphysischer Unsinn ist. Auch die Annahme des „Reinen Intellekts“, so verführerisch sie für jeden Geistesaristokraten und Menschenfeind sein mag, ist dermaßen verfehlt, dass sie begründungstheoretisch obsolet ist und damit weite Teile seines philosophischen Systems zum Einsturz bringt. Er soll sich entweder zu einem konsequenten Pessimismus bekennen und auf ein diesseitiges Erlösungskonzept verzichten oder aber die vermeintliche „Verneinung des Willens zum Leben“ und den vermeintlichen „Reinen Intellekt“ als höchste Formen des Individualismus und des Vitalismus anerkennen.“
Der Hundehalter war während dieser Ausführungen in Zorn geraten. Er wollte gerade das Wort ergreifen, als das Mädchen ihm die Leine aus der Hand riss und mit dem Pudel davonrannte. „Guckt mal, was ich habe!“, rief es den Freundinnen zu. „Ich habe jetzt einen Pudel. Den hat mir der Opa geschenkt.“ Der Hundehalter, zu gebrechlich, um dem Mädchen hinterherzurennen, zog die Mutter zur Verantwortung, indem er ihr eine heftige Ohrfeige gab und sie anschrie: „Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf!“ Der Nachbar begann zu lachen, klopfte dem Hundehalter auf die Schulter und sagte: „Das ist von Nietzsche.“
Die Silberhochzeit
Ein geschiedener Mann betrat mit seiner kleinen Tochter den Bauernhof seiner Eltern, wo diese mit der gesamten Verwandtschaft, einschließlich der geschiedenen Frau des Mannes, und mit dem Gesinde ihre Silberhochzeit feierten. Der Bürgermeister und die Besitzer der anderen großen Bauernhöfe waren ebenfalls eingeladen worden. Die Eltern waren damit der Verpflichtung nachgekommen, die sie aus ihrem Ansehen und ihrer wirtschaftlichen Stellung in der Dorfgemeinschaft ableiteten.
Obwohl alle anderen Gäste bereits anwesend waren, als der Mann mit seiner Tochter in den Saal mit der großen u-förmigen Tafel kam, herrschte absolute Stille. Der Vater erhob sich und sprach mit dröhnender Stimme: „Schön, dass du auch noch kommst, mein Sohn! Wenn du jeden begrüßt hast, können wir endlich anfangen.“ Begleitet von seiner Tochter, die jedes Mal einen Knicks machte, lief der Mann die Tischreihe ab und schüttelte jedem Gast die Hand. Immer wenn er zum nächsten ging, ließ er sich von seiner Tochter aus einer 500ml-Flasche einige Tropfen Desinfektionsmittel in die Hände geben und verrieb sie. Am Ende der Begrüßung war die Flasche leer.
Die Sitzordnung sah es vor, dass der Mann neben seiner geschiedenen Frau Platz nahm. Ihm war nicht wohl dabei, denn er hatte sich im Streit von ihr getrennt und das alleinige Sorgerecht erwirkt. Der Vater hielt eine kurze Begrüßungsrede, hob das Glas zum symbolischen Anstoßen und ließ dann die Vorspeise servieren. Wann immer die Eltern miteinander oder mit jemand anderem sprachen, sprachen auch die Gäste miteinander, und wann immer die Eltern schwiegen, schwiegen auch die Gäste. In einer dieser Schweigepausen erhoben sich die Eltern, gingen getrennt voneinander um die Flügel der Tafel und kamen zwischen den Flügeln wieder zusammen. Auf ein Zeichen des Vaters erklang Blasmusik, woher, war nicht zu sehen, und das Jubiläumspaar legte einen Schuhplattler aufs Parkett. Die Gäste jodelten, pfiffen und klatschten dazu. Nach dem Tanz winkte der Vater den Mann und seine geschiedene Ehefrau nach vorne und gab wieder ein Zeichen. Daraufhin erklang „Lambada“ von Kaoma. Der Vater zog seine ehemalige Schwiegertochter an sich. Diese riss ihr Kleid in Fetzen und gab sich dem Vater in einem völlig enthemmten Tanz hin. Gleichzeitig zog die Mutter ihren Sohn an sich und versuchte, den Tanz der ehemaligen Schwiegertochter nachzuahmen. Der Mann entzog ihr jedoch seine Hände und trat wie ein Holzscheit von einem Fuß auf den anderen. Die Gäste lachten und klatschten.
Als das Lied vorbei war, zog sich der Mann auf die Toilette zurück. Er blieb dort lange sitzen – zum einen, um die erlittene Schmach zu verarbeiten, zum anderen, um die Blase durch Mehrfachmiktion vollständig zu entleeren. Als er aufstand und sich den letzten Tropfen Urin mit einem Stück Toilettenpapier von der Vorhaut tupfte, bemerkte er, dass er nicht allein war. Ein alter Dienstbote hatte die ganze Zeit in einem Klappstuhl an der Wand gesessen und „König Ödipus“ gelesen. Jetzt erhob er sich und fragte, ob die Toilette frei sei. Der Mann verließ fluchtartig das Bad und ging zurück in den Saal.
Beim Betreten verstummten die Gäste. Dann begannen sie zu tuscheln und zeigten mit dem Finger auf ihn. „Wie läufst du den rum?“, schrie die Mutter entsetzt, sprang gehockt über den Tisch und lief zu ihm, um seine Hose hochzuziehen. Dann nahm sie ihn an der Hand und führte ihn an seinen Platz. Noch immer sahen die Gäste ihn an. Während die Mutter eine kleine Schere herausholte und dem Mann die Nasenhaare schnitt, sagte sie für alle vernehmbar, wie wichtig es sei, dass man offen über alles spreche. „Ja“, sagte der Mann und hob den Kopf, damit die Mutter einen besseren Einblick in seine Nase bekam und die Schere gezielt ansetzen konnte. Als sie mit dem Nasenhaarschnitt fertig war, ging der Mann zu seiner Tochter, nahm sie an der Hand und verließ mit ihr den Saal, das Haus und den Hof.
Während auf dem Herweg noch sommerliche Temperaturen geherrscht hatten, schneite es nun. Der Mann klappte sein Revers auf, nahm seine Tochter auf die Schultern und lief zügig los. Als er sich dem benachbarten Hof näherte, sah er vor dessen Tor zwei Bauern. Der jüngere Bauer küsste den älteren Bauern auf den Mund. Der Mann konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es Vater und Sohn waren oder ob es ein Liebespaar war. Beide Vorstellungen erfüllten ihn mit Ekel. Er wollte seiner Tochter den Anblick der Kussbauern ersparen und schnell an ihnen vorbeilaufen. Obwohl die Straße abschüssig war, gelang es ihm nicht. Er wurde langsamer statt schneller. Unterdessen zündeten sich die beiden Bauern eine Zigarette an und der jüngere Bauer setzte sich in Bewegung. Beim Laufen wandte er sich immer wieder um und warf dem älteren Bauern Kusshände zu. So sehr er sich auch anstrengte, der Mann konnte nicht schneller laufen als der jüngere Bauer und war daher in dessen Rauchwolke gefangen. „Schau mal, Papa, ein Schlitten!“, sagte die Tochter und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Metalltor des Nachbarhofes. Dort befand sich ein aus verschweißten Metallstreben gebildeter Schlitten. Als die Tochter ihn im Vorbeigehen berührte, löste er sich aus dem Tor und stand als wirklicher Schlitten vor ihnen. Geistesgegenwärtig setzte der Mann seine Tochter vorne auf den Schlitten, schob sie einige Meter an und schwang sich dann hinter ihr auf den Schlitten. Dieser nahm sofort Tempo auf und glitt nach wenigen Sekunden an dem jüngeren Bauern vorbei. Der Mann deklamierte:
„Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.“
Plötzlich ertönten hinter ihnen Schreie: „Rosebud! Rosebud! Rosebud“! Es war die Stimme des älteren Bauern. Zunächst dachten sich Vater und Tochter nichts dabei, denn sie wähnten sich in Sicherheit, doch plötzlich hörten sie Hundegebell hinter sich. Sie drehten sich um und sahen zwei Dobermänner auf sie zukommen. Unterdessen schmolz der Schnee, wodurch der Schlitten abgebremst wurde.
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